Virtuelle Doppelgänger

Typen von Digital Twins

von - 25.06.2024
Unternehmen, die einen digitalen Zwilling entwickeln möchten, stehen als erstes vor der Aufgabe, die passende Version auszuwählen. Siemens differenziert laut Johannes Ch. Eibinger drei Modelle:
  • Digital Twins of the Product für die effiziente Entwicklung neuer Produkte: Sie stellen eine virtuelle und physische Verbindung her, mit der Nutzer analysieren können, wie ein Produkt unter verschiedenen Bedingungen funktioniert. Dies stellt sicher, dass das nächste physische Produkt genau so funktioniert wie geplant.
  • Digital Twins of Production für den Einsatz in Fertigung und Produktionsplanung: Damit kann ein Un­ternehmen ermitteln, wie gut ein Fertigungsprozess in der Werkstatt funktioniert, bevor er in Produktion geht.
  • Digital Twins of Performance: Intelligente Produkte und Anlagen erzeugen riesige Mengen an Daten über ihre Nutzung und Effektivität. Der Digital Twin erfasst diese Daten und analysiert sie, um verwertbare Erkenntnisse für eine fundierte Entscheidungsfindung zu liefern.
Fachleute und Know-how für einen Digital Twin
Wer einen digitalen Zwilling einrichten möchte, benötigt ein Team mit speziellen Fähigkeiten – von Kenntnissen im Bereich Robotik bis zur Erfahrung mit 3D-Modellen. Natürlich ist es auch stark vom Einsatzfeld abhängig, welche Experten beim Aufbau eines Digital Twin benötigt werden. Wenn beispielsweise das Nahverkehrsnetz einer Stadt optimiert werden soll, müssen Verkehrsplaner eingebunden werden. Möchte ein Unternehmen dagegen Lieferketten nachhaltiger oder resilienter gestalten, sind Produktions- und Logistikspezialisten gefragt.
Nach Einschätzung von Nvidia sollten dem Kernteam eines Digital-Twin-Projekts folgende Fachleute angehören:
  • Experten, die 3D-Modelle erstellen und mit Texturen versehen: Sie müssen mit Tools umgehen können wie Autodesk Maya, 3DS Max, Blender, Houdini, Substance 3D, Sketchup und AutoCAD.
  • Industriedesigner: Sie erstellen Modelle und Konzeptdesigns zur Visualisierung und nutzen für das Testen Werkzeuge wie Rhino und 3DS Max.
  • Maschinenbauingenieure: Sie haben Erfahrung mit CAD-Software und sind in der Lage, exakte 3D-Modelle und Assets zu erstellen. Sie benötigen Kenntnisse von Tools wie PTC Creo, Catia und PTC Onshape. Diese sind für das Erstellen von CAD-Modellen, Simulationen und das Produktdatenmanagement wichtig.
  • Software-Ingenieure und Entwickler, Fachleute für Tooling: Sie erstellen Python-Skripte und arbeiten mit 3D-Fachleuten zusammen, um 3D-Assets mit Tools wie Unity und Unreal zu optimieren.
  • KI- und Machine-Learning-Fachleute: Sie sind für das Training von KI-Modellen, Computer-Vision- und Text-to-Speech-Anwendungen zuständig. Außerdem fallen Natural Language Processing (NLP) und das verstärkende Lernen (Reinforcement Learning) in ihr Aufgabengebiet. Daher müssen sie über Kenntnisse von Frameworks wie Pytorch und Tensorflow verfügen.
  • Spezialisten für Simulationen, die über Expertise mit CAE-Software (Computer-Aided Engineering) und Simulationstools verfügen. Zu diesen Programmen zählen Matlab, Ansys Fluent und Paraview.
  • Roboterspezialisten: Sie sollten Robot Operating Systems (ROS) beherrschen und Erfahrung mit dem Testen der Bewegungsalgorithmen von Robotern haben. Wichtig sind außerdem Kenntnisse darüber, mit welchen Sensoren Roboter ausgestattet werden sollen, damit sie ihre Umgebung entsprechend ihren Aufgaben wahrnehmen.
  • DevOps-Fachleute / IT-Ingenieure: Sie haben Erfahrung mit Container-Technologien wie Docker und Kubernetes. IT-Spezialisten sind für die Server- und Netzwerkumgebung zuständig, zudem für Cloud-Ressourcen, Caching-Systeme und Sicherheitsvorkehrungen wie Single-Sign-On (SSO) und Verschlüsselung.
  • UI/UX-Entwickler: Sie gestalten und implementieren Benutzeroberflächen mit Tools wie Adobe Creative Cloud und Figma.
  • Planungsfachleute und Manager: Sie bringen ihr Know-how über betriebswirtschaftliche Kernprozesse und Business Operations ein.
Speziell in mittelständischen Unternehmen wird nur ein Teil dieser Fachleute vorhanden sein, allein schon wegen des Mangels an IT-Fachkräften in der DACH-Region. Daher dürften sich in der Praxis oft unternehmensgreifende Digital-Twin-Teams formieren. Neben eigenen Mitarbeitern sind in ihnen Freelancer und Spezialisten von IT-Dienstleistern vertreten.

Kein „Mal-eben-schnell“-Projekt

Für Unternehmen kann es eine Herausforderung darstellen, eine tragfähige Gesamtlösung zu implementieren. „Ein einzelner Digitaler Zwilling ist schnell beschrieben und vorführfähig aufgesetzt. Eine industriefähige Architektur für digitale Zwillinge ist etwas ganz anderes“, betont Dominik Rüchardt von PTC. Der Grund: Es mischen sich schnell sehr komplexe Daten und Prozesse mit einer hohen Änderungsdynamik. „Nicht nur die einzelnen beteiligten Komponenten, sondern alle vernetzten Systeme, der ‚Digital Thread‘ als Vernetzungsstrategie, kommen hier zur vollen Entfaltung“ so Rüchardt.
Das Konzept des Digital Thread bei Digital Twins spielt auch für Siemens eine zentrale Rolle. Es sieht vor, dass alle relevanten Daten verknüpft und synchronisiert werden – von Produktentwicklung über Fertigung und Lieferkette bis Betrieb und Service. Ziel ist, eine ­höhere Transparenz der Effizienz zu erreichen und ­zudem die Kontrolle über Prozesse zu gewinnen, was letztlich zu verbesserten Produkten und Dienstleistungen führen soll.
Doch speziell die Verbindung von Daten ist für viele Unternehmen eine Herausforderung: „Bei der Erstellung digitaler Zwillinge müssen die Teams häufig Daten von verschiedenen Seiten und Tools in unterschiedlichen Formaten manuell sammeln und aufbereiten. Dies führt oft zu veralteten Daten im Modell, die wichtige Entscheidungen beeinflussen, und zu teuren Verzögerungen und Nacharbeiten führen“, berichtet Timo Kistner von Nvidia.
Ein Anwendungsfeld von digitalen Zwillingen ist die Planung von Rechen­zentren. – im Bild eine Illustration des Nvidia Omniverse.
(Quelle: Nvidia)
Erforderlich sind seiner Ansicht nach Standards, Software Development Kits, Microservices, Collaboration-Funktionen und Visual-Computing-Plattformen wie Nvidia RTX. Mit ihnen lassen sich Datenquellen integrieren und Tools und Services entwickeln, die wiederum für das Erstellen von Digital Twins benötigt werden. Mit „Omniverse“ hat Nvidia eine Plattform geschaffen, auf der auch Anbieter wie Autodesk, Siemens und PTC Tools bereitstellen. Dies soll Firmen den Einstieg in die Thematik erleichtern und die Zusammenarbeit fördern. Auch Dienstleister wie das deutsche Unternehmen Ipolog nutzen die Plattform, um Anwendungen und Services im Bereich digitale Zwillinge zu entwickeln. Diese stellt Ipolog kleinen und mittelständischen Firmen zur Verfügung.

Digitale Zwillinge für den Menschen

Spannende Perspektiven bietet auch die Kombination aus Metaverse und Digital Twins. Ob sich Industrial-Metaverse-Plattformen durchsetzen, ist zwar noch offen, doch finden sich in diesem Bereich schon jetzt interessante Ansätze. So nutzt die Lufthansa virtuelle Versionen von Flugzeugkabinen und Passagieren in Verbindung mit der VR-/AR-Brille Vision Pro von Apple. Flugbegleiter lernen so, mit verängstigten oder aggressiven Passagieren umzugehen.
Experten des Strategy Lab der Universität Zürich wiederum gehen davon aus, dass in absehbarer Zeit digitale Zwillinge von menschlichen Organen und Stoffwechselprozessen in der Medizin und der Forschung eine wichtige Rolle spielen. Der Digital Twin eines Patienten könnte etwa genutzt werden, um die Wirkung von Therapien und Medikamenten zu testen – ohne Risiko für den „echten“ Menschen“.
Allerdings räumen Unternehmen wie Siemens Healthineers ein, dass es noch ein langer Weg ist bis zum „digitalen Patienten“. Denn es sind nicht nur technische Herausforderungen zu meistern, etwa bei der automatisierten Analyse von Daten und der Visualisierung dieser Informationen mittels Cinematic Rendering. Auch der Schutz von Patientendaten und die schwache Digitalisierung des Gesundheitswesens können sich als Hemmschwellen erweisen.
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