Virtuelle Doppelgänger

„Semantische Datenstrukturierung ist entscheidend“

von - 25.06.2024
Damit digitale Zwillinge den erhofften Nutzen bringen, muss vor allem eine Voraussetzung erfüllt sein. so Dr. Birgit Boss, Senior Expert Digital Twins and Standardization bei Bosch Connected Industry: Daten müssen mit Kontextinformationen verknüpft werden.
com! Professional: Frau Dr. Boss, was halten Unternehmen von Digital Twins?
Dr. Birgit Boss
Senior Expert Digital Twins and Standardization, Bosch Connected Industry
(Quelle: Bosch )
Birgit Boss:
Wir sehen, dass die Akzeptanz kontinuierlich wächst. In Deutschland wurde die Idee der digitalen Zwillinge über die Plattform Industrie 4.0 verbreitet. Mit unserem Bosch Semantic Stack nutzen wir digitale Zwillinge in den eigenen Werken und bieten das Portfolio der fertigenden Industrie an. Zu unserer Tätigkeit gehört auch das Engagement für mehr Standardisierung und die permanente Weiterentwicklung der digitalen Zwillinge, wie in der Industrial Digital Twin Association (IDTA) oder dem Catena-X-Netzwerk für die Automobilindustrie.
com! Professional: Was sind in ihren Augen die wichtigsten Pluspunkte von Digital Twins?
Boss: Die größten Vorteile liegen in der Erweiterbarkeit, der Modularität und der Semantik, das heißt, die Daten einheitlich zu beschreiben und sie für alle Seiten verständlich zu machen. Die Daten werden an einer zentralen Stelle maschinenlesbar zugreifbar gemacht – auch wenn sie in zahlreichen unterschiedlichen IT-Systemen abgespeichert sind. Sie lassen sich zudem über Hersteller hinweg standardisieren. So sind sie flexibel kombinierbar und können um immer weitere Informationen angereichert werden.
Das kommt allen Parteien zugute: Zum Beispiel sparen Wartungsmitarbeiter erheblich Zeit, indem sie alle relevanten Daten an zentraler Stelle abrufen können, ohne die unterschiedlichen Quellen zu kennen. Die Daten können darüber hinaus auch den Kunden zur Verfügung gestellt werden. Dank Standardisierung sind spezielle Schnittstellen für jeden Lieferanten überflüssig, was wiederum Zeit und Geld spart.
com! Professional: Diverse Anbieter von Digital-Twin-Lösungen nenen als weitere Vorteile Aspekte wie Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Wie sieht das Bosch?
Boss: Der CO2-Fußabdruck ist ein wichtiger Punkt ist. Digitale Zwillinge helfen, den Fußabdruck aus Fertigung und Versand genau zu ermitteln. Auch Recyclingunternehmen profitieren von den Daten: Je genauer sie wissen, aus welchen Materialien ein Produkt besteht, desto einfacher ist es, die Rohstoffe für eine Wiederverwendung aufzubereiten.
„Erst wenn Daten mit Kontext­informationen verknüpft werden, entstehen nutzbare Informationen.“
com! Professional: Laut Bosch ist die semantische Datenstrukturierung ein Schlüsselelement von Digital Twins. Was ist darunter zu verstehen?
Boss: Ein Beispiel aus der Fertigung verdeutlicht die Herausforderung: Wenn ein Sensor einen Temperaturwert von 100 Grad produziert, können die Prozessbeteiligten diesen Wert in Kontext zu dem setzen, was sie sehen: die Erhitzung eines Werkstoffs. Dem Maschinenbauer mag rein nach Datenlage nicht klar sein, ob dieser hohe Wert in Verbindung mit einem Erhitzungsprozess stand oder ob eine Störung vorlag. IIoT-Entwickler, denen kaum Wissen über die Nutzung des Sensors vorliegt, können dagegen nicht einmal einschätzen, ob der Wert im Kontext dieses Prozesses als besonders hoch oder niedrig anzusehen ist – gegebenenfalls halten sie die 100 Grad sogar für Fahrenheit statt Celsius.
Aus dem Beispiel wird klar: Die umfassende semantische Strukturierung beziehungsweise Homogenisierung von Daten ist die Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Nutzung digitaler Zwillinge. Erst wenn Daten mit Kontextinformationen verknüpft werden, entstehen nutzbare Informationen. Sie werden vergleichbar und lassen sich von verschiedenen Systemen nutzen, weil sie den benötigten Kontext immer mit sich tragen. Jeder Empfänger erhält die Informationen, die er benötigt, und in einer Sprache, die er versteht.
com! Professional: Digitale Zwillinge gibt es nicht von der Stange. Welche Hürden müssen Unternehmen bewältigen, die Digital Twins in ihrer Organisation einführen möchten?
Boss: Die größte Herausforderung besteht darin, die Durchgängigkeit von digitalen Zwillingen über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg umzusetzen. Es sind so viele Parteien daran beteiligt, so viele Daten und unterschiedliche Quellen. Deshalb ist die Standardisierung so wichtig. An dieser arbeiten wir intensiv innerhalb der Industrial Digital Twin Association [IDTA]. Gemeinsam haben wir die sogenannte Verwaltungsschale (Asset Administration Shell) als Standard entwickelt.
Für Unternehmen selbst liegt die größte Herausforderung oft darin, überhaupt mit einem datengetriebenen Projekt auf Basis digitaler Zwillinge zu starten. Wir empfehlen hier immer einen Vierstufen-Plan: Angefangen bei der Identifizierung des geeigneten Anwendungsfalls über das Schaffen der nötigen Strukturen und der Umsetzung als ‚Minimal Viable Product‘ bis hin zur Umsetzung als skalierbare Lösung, die auf weitere Anwendungen ausgeweitet werden kann.
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