Virtuelle Doppelgänger

Keine Simulationssysteme 3.0

von - 25.06.2024
Die Beispiele legen auf den ersten Blick nahe, dass es sich bei digitalen Zwillingen um optimierte Systeme für die Simulation von Gegenständen, Systemen und Prozessen handelt. Dem ist aber mitnichten so, wie Dorian Gast feststellt. Er betont: „Es geht es vor allem darum, dass ein digitales Abbild des physischen Objekts in Echtzeit eine Zustandsanalyse ohne direkten menschlichen Kontakt ermöglicht. Zudem können die Objekte proaktiv verwaltet werden. Software-Updates lassen sich aus der Ferne und vollautomatisch einspielen“. Herkömmliche CAD-CAE-basierte Simulationstechniken bieten seiner Ansicht nach viel weniger. „Der Hauptunterschied besteht darin, dass der digitale Zwilling in Echtzeit kommuniziert. Er wird parallel zum realen System betrieben und kontinuierlich mit den gleichen Daten versorgt, die auch das reale System erhält. Somit werden immer die gleichen Varianten validiert.“

Industrieanwendungen dominieren

Was die Einsatzfelder von digitalen Zwillingen betrifft, sind sich alle Fachleute einig: Es gibt jede Menge davon. „Smart Manufacturing, Medizin, aber auch Smart Citys, Connected Infrastructure sowie das Bauwesen in Form von Zwillingen von Brücken oder Gebäuden“, nennt zum Beispiel Florian Gast. Doch speziell in Deutschland und der Schweiz mit ihren vielen Industrieunternehmen dominiert bislang noch ein ganz bestimmter „Use Case“ – die Industrieanlage.
Dominik Rüchardt
Senior Director Customer Strategy Office – Commercial Excellence, PTC
Foto: PTC
„Ausfallzeiten werden schnell sehr teuer. Sie lassen sich mit einem digitalen Zwilling
verkürzen oder sogar ganz vermeiden.“
„Die wichtigsten Anwendungen liegen weiterhin in der Überwachung von Produktionsanlagen, um Ausfälle zu verhindern und Qualitätsprobleme zu verstehen, sowie in der Betriebsüberwachung für einen vorausschauenden Service von Maschinen“, berichtet Dominik Rüchardt, Senior Director Customer Strategy Office - Commercial Excellence bei PTC, einem Technologieunternehmen, das sich auf Bereiche wie IoT, Product Lifecycle Management, CAD und Augmented Reality konzentriert. „Beides schließt das kontinuierliche Verbessern von Produkten ein, das oft schon in der Entwicklung beginnt.“
Eine zentrale Rolle beim Datenaustausch spielt das Internet der Dinge (IoT). Das ist auch der Grund dafür, dass sich etliche Betreiber von IoT-Plattformen im Bereich ­Digital Twin engagieren. Dazu zählen beispielsweise PTC, Siemens und Bosch im Industrieumfeld, aber auch Cloud-Serviceprovider wie Amazon mit AWS und ­Microsoft mit Azure.

Ausfallzeit senken – Nachhaltigkeit stärken

In der Fertigung spielt ein Digital Twin mit IoT und Anwendungen wie der vorausschauenden Wartung (Predictive Maintenance) zusammen. Der Grund liegt auf der Hand: „Ausfallzeiten werden schnell sehr teuer. Sie lassen sich mit einem digitalen Zwilling verkürzen oder sogar ganz vermeiden, weil Probleme entweder bereits erkannt werden, bevor sie auftreten, oder weil sie in viel kürzerer Zeit gelöst werden können“, betont Dominik Rüchardt.
Hinzu kommen geringere Kosten für Wartung und Reparaturen, etwa weil sich solche Aufgaben mit Unterstützung einer digitalen Version von Maschinen und Komponenten „remote“ durchführen lassen. „Letztlich kann ein Digital Twin dazu beitragen, ganze Anlagen so zu steuern, dass sie auf hohem Niveau kostengünstig und fehlerfrei laufen“, resümiert Rüchardt.
Ein Einsatzbereich von Digital Twins hat durch Vorgaben des Gesetzgebers in letzter Zeit stark an Bedeutung gewonnen: die Entwicklung von Modellen, mit deren Hilfe Unternehmen und öffentliche Hand umweltschonender agieren. „Das Nachhaltigkeitsmanagement ist sicherlich eines der wichtigsten Anwendungsfelder“, bestätigt Johannes Fuhrmann von Arvato Systems. In der EU sind das Lieferkettengesetz und die CO2-Steuer Beispiele für Regelungen, bei deren Umsetzung Unternehmen von digitalen Zwillingen profitieren. Dasselbe gilt für die Schweiz. Dort gibt es bereits seit 2008 eine CO2-Abgabe.

Traceability nutzen

Wennn Produkte und Bestandteile mit QR-Codes ausgestattet werden, lassen sie sich über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg verfolgen und Prozesse, Engpässe und Optimierungsmöglichkeiten in der Supply Chain offenlegen. Diese „Traceability“ hat gleich mehrere Vorteile. „Rückrufaktionen und fehlerhafte Chargen lassen sich deutlich kleinteiliger verfolgen; Produktnutzungsdaten können anwenderspezifisch zugeordnet werden, und es ist leichter, Compliance-Anforderungen umzusetzen“, so Johannes Fuhrmann.
Johannes Fuhrmann
Head of Business Development für die Fertigungsindustrie, Arvato Systems
Foto: Arvato Systems
„Das Nach­haltigkeits­management ist sicherlich eines der wichtigsten Anwendungsfelder von digitalen Zwillingen.“
Auch Servicetechniker profitieren von der Nachverfolgbarkeit. So stattet der Automatisierungsspezialist ABB bereits seit mehreren Jahren Komponenten wie Elektromotoren und Frequenzumrichter mit einem QR-Code aus. Über ihn haben Techniker und Servicemitarbeiter Zugriff auf die digitalen Zwillinge der Systeme und Komponenten, inklusive Informationen über den Produktionszeitpunkt, Konstruktionsdaten, Modelle, Simulationen, Handbücher und die Service-Historie. Das vereinfacht die Wartung und Reparatur solcher Systeme spürbar.
Zentrale Eigenschaften von digitalen Zwillingen
Im Vergleich zu herkömmlichen Simulationen verfügen Digital Twins über eine Reihe von ganz besonderen Eigenschaften und Vorteilen, sagt Johannes Ch. Eibinger, Director Business Development & Presales AT/CH bei Siemens Digital Industries Software. „Digitale Zwillinge und herkömmliche Simulationstechniken haben gemeinsame Ziele, wie die Vorhersage und Analyse von Verhalten und Leistung in verschiedenen Kontexten. Sie unterscheiden sich jedoch in einigen wichtigen Aspekten, die ihre Anwendung und ihren Nutzen kennzeichnen“, so Eibinger.
Daraus leitet der Experte eine Reihe von Vorteilen auf Seiten des digitalen Zwillings ab:
  • Datenintegration und -aktualität: Ein zentrales Merkmal von Digital Twins ist die Fähigkeit, in Echtzeit oder nahezu Echtzeit Daten aus der physischen Welt zu integrieren. Das bedeutet, dass digitale Zwillinge fortlaufend mit aktuellen Daten aus Sensoren, IoT-Geräten und anderen Quellen gefüttert werden. Konventionelle Simulationen basieren hingegen häufig auf historischen oder hypothetischen Datensätzen und sind statischer.
  • Interaktivität und Anpassungsfähigkeit: „Ein Digital Twin kann dynamisch auf Veränderungen in seinem physischen Gegenstück oder in der Umgebung reagieren und Modelle entsprechend anpassen“, erklärt Eibinger. „In einer konventionellen Simulation erfolgen solche Anpassungen oft manuell und erfordern eine Neukonfiguration oder Neuerstellung des Modells.“
  • Komplexität und Detailgenauigkeit: Digitale Zwillinge stellen oft komplexe Systeme mit einem hohen Grad an Detailgenauigkeit dar, einschließlich physischer, funktionaler und verhaltensbezogener Aspekte. Konventionelle Simulationsmodelle können ebenfalls komplexe Systeme abbilden, tendieren aber dazu, sich auf spezifischere Aspekte oder vereinfachte Annäherungen zu konzentrieren, um Rechenressourcen zu sparen.
  • Zyklischer und kontinuierlicher Verbesserungsprozess: Digital Twins sind in einen kontinuierlichen Zyklus von Tests, Überwachungen, Analysen und Verbesserungen eingebettet. „Diese ständige Iteration ermöglicht über die Zeit eine präzisere Vorhersage und Diagnose“, sagt Johannes Ch. Eibinger. Konventionelle Simulationen werden ihm zufolge dagegen oft als einmalige oder periodische Analysen durchgeführt, ohne notwendigerweise in einen solchen iterativen Prozess eingebunden zu sein.
  • Lebenszyklusmanagement: Digital Twins werden über den gesamten Lebenszyklus eines physischen Objekts oder Systems eingesetzt, von der Designphase über den Betrieb bis hin zur Wartung und gegebenenfalls zum Recycling. Simulationen dagegen sind typischerweise auf spezifische Phasen oder Fragestellungen beschränkt.
Johannes C. Eibinger resümiert: „Die Entwicklung von Digital Twins repräsentiert also eine Evolution in der Welt der Simulationstechnik. Sie eröffnen neue Möglichkeiten für die Überwachung, Verwaltung und Optimierung von Systemen in einer Vielzahl von Branchen, indem sie eine tiefere Integration von Daten und eine höhere Flexibilität in der Modellierung und Anpassung bieten.“
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